Horst Schäfer: „Völkerverständigung“

Horst Schäfer – Rede vor der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Dietzenbach am 12. November 2004 anläßlich der Verleihung der Auszeichnung für Verdienste um den Gedanken der Völkerverständigung

Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher und Stadtverordnete, sehr geehrter Herr Vorsitzender des Ausländerbeirats und Mitglieder des Gremiums, liebe Sympathisanten und Freunde des Gedankens der Völkerverständigung, sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,

ich bedanke mich zunächst für die Gunst, vor Ihnen und damit öffentlich meine Gedanken zu dieser Ehrung darlegen zu dürfen. Ich stehe mit dem schlechten Gewissen eines öffentlichen Rechtsverletzers vor Ihnen, weil ich nach der Geschäftsordnung gar nicht vor Ihnen sprechen dürfte. An dieser Rechtslage ändert die heutige Zustimmung des Ältestenrates zu meiner Dankrede nichts. Zur erwarteten und notwendigen Danksagung in die förmliche Rolle eines öffentlichen Rechtsverletzers schlüpfen zu müssen, ist speziell für einen Richter – selbst noch im Ruhestand – eine Zumutung. Für einen – im Berufsleben zwei Jahre lang auch mit Disziplinarrecht beschäftigten – Richter ist das besonders tragisch. Der Anlaß der zum 10. Mal ausgesprochenen Auszeichnung hätte es eigentlich nahegelegt, dem Preisträger auch förmlich legal und ausreichend Gelegenheit zu geben, seine Gedanken zur Auszeichnung darzulegen.

Ich bedanke mich herzlich bei dem Gremium, das mich mit dieser Auszeichnung ehrt. Der Umstand, daß der Ausländerbeirat diese Auszeichnung einwandslos und einstimmig beschlossen hat, kann mich besonders ehren. Er hinterlässt bei mir – und natürlich auch beim Zuhörer und beim am politischen Ortsgeschehen Teilnehmenden – aber auch manche Fragen. 

Wird da ein vielgesichtiges wandelfähiges Chamäleon geehrt, dem alle auf den Leim gegangen sind?

Wird da ein konturloses Weichei ausgezeichnet, das keine Wände hat und gegen das man somit auch keine Einwände erheben kann?

Was ist ein solcher Preis wert?

Wird er nicht „nur“ von einem subalternen – und nur beratend legitimierten – öffentlichen Gremium verliehen?

Wie ist der Preis zu gewichten, etwa im Vergleich zu den verschiedenen Varianten der Freiherr-vom-Stein-Ordinaria, die zudem von den „richtigen“ – kommunalrechtlich zu Entscheidungen legitimierten – öffentlichen Gremien vermittelt werden?

Ist es denn richtig, eine Einzelperson auszuzeichnen, wo es doch so viele Organisationen und Vereine in der Stadt gibt, die tagtäglich den Gedanken der Völkerverständigung verbreiten, ja praktizieren?

So sehr ich mich als Einzelperson über diese Auszeichnung freuen kann, so sehr liegt das Gewicht dieser Auszeichnung doch gewiß in dem Wunsch und Willen des auszeichnenden Gremiums nach Verständigung der vielen unterschiedlichen Ethnien in unserer Stadt, nach friedlichem, gewaltfreiem, verständnisbereitem, solidarischem und gerechtem Zusammenleben, vielleicht sogar Mit- und Füreinander in unserer Stadt. Die Vision einer solchen Gesellschaft ist im Vorwort des von mir redigierten und editierten und gerade erschienenen Dietzenbacher Buches „Nachdenken über den 11.September“ pragmatisch beschrieben. Ich lege jedem diese Lektüre nahe. Sie mag als Alternative auf die immer wiederkehrende Warnung konservativer Politiker vor der „Illusion einer multikulturellen Gesellschaft“ verstanden werden, wie das gerade mal wieder der bayerische Innenminister Günter Beckstein – als Reaktion auf die angespannte interkulturelle Atmosphäre und aktuelle Sicherheitslage in den Niederlanden – ausgesprochen hat. 

Wie könnte man diese Vision verständlich machen?

Man vernimmt mit Staunen, daß die Anzahl derjenigen Deutschen, die Deutschland auf Dauer verlassen, von Jahr zu Jahr zunimmt. Diese Inländer fühlen sich – an den Küsten der Balearen, der Ägäis, der Levanthe und am Golf von Thailand – offenbar gerne als Ausländer. Sind soziale Sicherheiten und günstige klimatische Verhältnisse, hohes Freizeit- und Spaßkulturniveau im fernen Aufenthaltsland oder noch etwas anderes die Gründe für dieses selbstgewählte Ausländer-Dasein auf Dauer? Oder ist es auch die Erfahrung, daß von dortigen Inländern neben dem Geldbeutel zuweilen auch die Menschenwürde der Ausländer in Form großer Gastfreundschaft respektiert wird und dort Werte gelebt werden, die wir bestaunen und/oder die bei uns verloren gegangen sind?

Wie gehen wir in Deutschland, in Dietzenbach mit unseren Ausländern um?

Was sperrt sich in uns zu begreifen, daß alle die zu uns gezogenen Ausländer auch ihre Menschenwürde, ihre Menschenrechte mitbringen, die allzu oft bereits im Herkunftsland schwer verletzt wurden, und dessentwegen sie sich gar nicht zu artikulieren trauen?

Warum fällt uns der Gebrauch des Schimpfwortes „Asylant“ – ähnlich „Spekulant“, „Simulant“, „Denunziant“, „Demonstrant“ – ärger noch: „Wirtschaftsasylant“ so leicht?

Warum fällt uns – den Bewohnern der Ersten Welt – das Bekenntnis so schwer, daß wir entscheidend – insbesondere aus eigennützig ökonomischen Gründen – zu dieser Migration beitragen? Ein New Yorker Börsenmakler sprach – während des U.S.-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes – vor etwa 4 Wochen ganz locker in ein Reportermikrophon: „Was kümmern mich Krieg und Menschenschicksale im Irak, Hauptsache der Ölkurs steigt.“ Sind das unsere Werte?

Was mag vor diesem Hintergrund in den Köpfen unserer Ausländer vorgehen, wenn vor ihnen die rhetorische Dauervorhaltskeule des „Einbruchs in unsere Sozialsysteme“ geschwungen wird? Wer sind eigentlich die Sozialeinbrecher?

Waren die bewegendsten Sozialfälle der letzten Jahre, Florida-Rolf und Viagra-Kalle, eigentlich Ausländer?

Was mag ein Migrant denken, dem der Begriff einer ihm gewährten „Kettenduldung“ in seine Heimatsprache übersetzt wird? Legt dieses Wort sprachliche Sensibilität beim Umgang mit Migranten nahe? Zum Verständnis für Inländer: Dieses Wort ist der aktuellen Debatte um das Zuwanderungsgesetz entnommen. Eine Kettenduldung ist der mehrfach verlängerte „Ausreiseaufforderungsaufschub“, anders ausgedrückt: das mehrfach förmlich verweigerte Bleiberecht des Ausländers. Der Migrant hat die sehr oft schweren Ketten seines Herkunftslandes hinter sich gebracht und wird in seinem neuen Aufenthaltsland bereits sprachlich schon wieder in Ketten gelegt. Wäre „Kettenduldung“ ein Vorschlag für das Unwort des Jahres? Wie weit ist dieses Wort etymologisch von der Wortschöpfung „Umschlagplatz“ – als Sammelplatz für Juden an der Warschauer Stawki-Ulica zum Abtransport in die Konzentrationslager – entfernt?

Ich komme noch einmal zum Inhalt der Auszeichnung zurück, dem Wunsch des Gremiums nach Aktivitäten und Initiativen zur Völkerverständigung vor Ort. Die Reihe der Preisträger zeigt auf, daß es meist keine Amtsträger, meist auch keine Ehrenamtlichen waren, die für die Völkerverständigung vor Ort ausgezeichnet wurden. -Eine Theologin befördert den Dialog der Religionen und feiert gemeinsame Gottesdienste mit Menschen anderer Religionen.

–     Ein Feierabend-Sportler holt um Mitternacht deutsche und nicht-deutsche Jugendliche von der Straße und treibt mit ihnen Sport.

–     Zwei Kinderärzte nehmen sich nicht nur der gesundheitlichen sondern auch der sozialen Ursachen für Erkrankungen von Kindern an.

–     Eine deutsch-türkische Frauengruppe bietet Gelegenheit zu sensibel emanzipatorischen, kulturübergreifenden, gemeinsamen Unternehmungen an.

–     Eine Migrantenberatungsgruppe gibt umfassend praktische Lebenshilfestellungen und Ratschläge.

–     Ein junges Gastronomenduo bietet in- und ausländischen Jugendlichen die Möglichkeit zu einem offenen Treffpunkt in einem historischen Kellergewölbe in der Altstadt.

–     Ein Unterstützerkreis tritt ein für eine ausländische Rumpffamilie, der im Falle der Abschiebung das Auseinanderreißen der Familie im Herkunftsland droht.

Diese Preisträgerfälle zeigen auf, daß eine Gesellschaft zwar von gewählten Amtsträgern gesteuert und von vielen Ehrenamtlichen getragen wird, daß es aber auch vieler engagierter, offener, neugieriger Bürger ohne Amt und ohne Ehrenamt bedarf, um ein bürgerfreundliches Gesellschaftsklima zu schaffen, selbst bei Begegnungen nur im Hochhausaufzug, am Bank- oder Postschalter, im Arztwartezimmer, im Sportverein oder in der Kundenschlange an der ALDI-Kasse. Dieser Kreis der gewissermaßen Amtslosenwird – nach meinem Verständnis – mit mir ausgezeichnet.

Das mit den Beispielsfällen der Preisträger beschriebene Für- und Miteinander ist gelebter positiver Pluralismus. „Der Wert des Pluralismus als politisches Prinzip ist im öffentlichen Bewusstsein nur sehr unzureichend verankert“, sagte kürzlich der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Altmeier in einem Interview.

Was wollte er damit sagen?

Etwa nur das Nebeneinanderherleben von Individuen, die Existenz von Parallelgesellschaften?

Pluralismus ist der Wert der Vielfalt, der Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender und offen, verständnisvoll und fair miteinander konkurrierender Menschen, Mächte, Meinungen, Missionen, Mitgestaltern an demokratischer Willensbildung und Mitverfechtern des Rechts- und Sozialstaates. Daran nehmen auch Nicht-Deutsche teil. Wenn sie das oft nur unzulänglich tun, ist es dann nicht unsere Aufgabe, ernsthaft die Gründe hierfür zu erforschen und sie für eine aktive Verteidigung dieser pluralistischen und demokratischen Werte zu gewinnen? Was wissen wir denn von den Werten und den Menschenrechten in den Herkunftsländern der Nicht-Deutschen? Und: Leben uns diese Nicht-Deutschen nicht auch Werte vor, um die wir sie beneiden können? Zum Beispiel die Fürsorge für alle Familiengenerationen, der Respekt vor der Lebens- und Arbeitsleistung des älteren Menschen, die Hochachtung vor der Gastfreundschaft, die Gelassenheit der Lebensphilosophie, oder die arabische Lebensweisheit: Wenn du redest, muß deine Rede besser sein als es dein Schweigen gewesen wäre.

„Ausländische Mitbürger, die sich rechtmäßig und friedlich hier aufhalten, sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft“, heißt es im CDU-Wahlprogramm für Schleswig-Holstein. Ich wünschte, dieser Gedanke fände über alle Parteigrenzen hinweg weite Verbreitung und würde sich auch im Dietzenbacher Rathaus einnisten. Die 36-jährige senegalesische Migrantin Fatou Diome, zur Zeit Literaturwissenschaftlerin an der Universität Straßburg, schreibt in ihrem im September 2004 erschienen Buch Le ventre de l’Atlantique, im deutschen Titel Der Bauch des Ozeans: „Ich suche meine Heimat dort, wo man die Vielfalt schätzt, ohne sie auseinanderzudividieren. Ich suche meine Heimat dort, wo man Menschen nicht zerstückelt.“ Ach, könnten wir ihr und uns diesen Wunsch nicht erfüllen?

Für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld herzlichen Dank, tessekür ederim, shukrija, chong rachmat, mahalo, gracias, hvala, kösenem, dzienkuje, bolschoje spacibo, mange tak, kösönöm, merci and at least thanks a lot.

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